Wenn die Helfer Hilfe brauchen
Nach Katastrophen fällt es den Einsatzkräften oft schwer, den Schrecken seelisch zu verarbeiten.
Ein US-Psychologe entwickelte eine Methode, die dabei helfen kann. Doch die Zweifel häufen sich:
Schadet "Debriefing" mehr als es nützt? / Von Jochen Paulus
Wohl wieder der alljährliche Christbaumbrand, dachte Michael Kämpfer von der
Freiwilligen Feuerwehr Sindlingen, als er am Heiligabend kurz vor Mitternacht
ausrücken musste. Doch am Einsatzort gab es keinen Brand zu löschen. In der
Kirche des Frankfurter Stadtteils hatte ein 49-jährige Frau zwei Handgranaten
gezündet. Wo die weggesprengte Kirchenbank gestanden hatte, lagen nun verstreut
die Teile einer Leiche. Seit dem Ereignis sind mehr als vier Jahre vergangen.
Doch das Bild hat sich Kämpfer für immer eingeprägt. "Ich könnte heute noch
jeden Brocken einzeln da hinlegen", sagt der 37-Jährige. Vor der Kirche
versuchte Feuerwehrfrau Andrea Schröder eine Frau wiederzubeleben, die in den
Blumenbeeten lag. Irgendwann drehte die Helferin das Opfer um - der Rücken der
Frau war nur noch ein riesiges, klaffendes Loch. Sie starb. Drei Tote und 16
Verletzte waren die Bilanz der blutigen Weihnacht.
Die Erinnerung an solche grausige Szenen ist gefährlich. Unbetreut tragen
zahlreiche Helfer Spätschäden davon. 18 Prozent der deutschen Feuerwehrleute
leiden nach einer Untersuchung der Universität Trier von 400 repräsentativ
ausgewählten Einsatzleuten an einer posttraumatischen Belastungsstörung, unter
den Altgedienten sind es noch mehr. In regelmäßigen Albträumen während der Nacht
erleben sie die grauenvollen Szenen immer wieder von neuem, am Tag suchen die
Bilder sie als so genannte Flashbacks heim, gegen die sie sich nicht wehren
können. Sie wagen sich nicht mehr in die Nähe des Ortes der Katastrophe,
erschrecken bei nichtigen Anlässen, schlafen schlecht und können sich nicht mehr
konzentrieren. Fünf Prozent der Polizisten in fünf untersuchten Revieren und
sogar 36 Prozent der Rettungsdienstkräfte von zehn untersuchten Wachen haben
laut Ergebnissen der Universität Hamburg mit solchen Problemen zu kämpfen.
Früher wurde alles verschwiegen
Lange Zeit ignorierten die Oberen der Rettungsdienste solche Spätfolgen. Die
Männer und Frauen mussten aber irgendwie mit ihren Erlebnissen fertig werden.
Nicht einmal im Kollegenkreis unterhielten sie sich über ihre Erfahrungen.
"Früher war man ein Weichei, wenn man darüber gesprochen hat", erinnert sich
Kämpfer. Doch vor gut 15 Jahren stellte der US-Militärpsychologe Jeffrey
Mitchell mit seinem so genannten Debriefing ein Konzept vor, das den Betroffenen
aus ihren seelischen Nöten heraushelfen sollte.
Und auch die deutschen Organisationen stürzten sich darauf. Zwar gibt es heute
keine Beweise für die Wirksamkeit dieser Methode; aber sie ist billig und
vermittelt zugleich das beruhigende Gefühl, etwas getan zu haben. Im
Wesentlichen sieht sie vor, dass die Teilnehmer sich in einer einzigen
Gruppensitzung in den ersten Tagen nach der Katastrophe gegenseitig ihre
Erlebnisse und Gefühle erzählen, um so über das Erlebte hinwegzukommen. In
dieser Sitzung stellen Psychologen oder ausgebildete Helfer als Leiter immer
wieder Fragen wie: "Welche Erinnerung an das Ereignis möchten Sie aus dem
Gedächtnis löschen?" Pausen gibt es während der mehrstündigen Sitzung nicht. Auf
die Toilette zu gehen ist erlaubt, doch ein eigens abgestellter Türsteher achtet
darauf, dass alle zurückkommen und auch sonst möglichst niemand verschwindet.
Auch Michael Kämpfer nahm an einer solchen Sitzung teil. Noch in der Nacht war
ein Debriefer vom örtlichen Sigmund-Freud-Institut ins Sindlinger Feuerwehrhaus
geeilt und versuchte die in einer großen Runde versammelten Helfer verschiedener
Rettungsdienste dazu zu bewegen, sich die Ereignisse von der Seele zu reden. In
Sindlingen hatten die Feuerwehrleute allerdings wenig Lust auf die nächtliche
psychologische Aufarbeitung. "Diese dauernden bohrenden Fragen: Jetzt sagt doch
was", erinnert sich Kämpfer. "Aber viele wollten gar nichts sagen."
Möglicherweise war es noch zu früh, laut Mitchell sollte ein Debriefing
frühestens 24 Stunden nach dem Drama beginnen. Die meisten Teilnehmer empfinden
das Reden dann "als sehr hilfreich", so Regina Steil von der Universität Jena,
die alle einschlägigen Studien ausgewertet hat.
Nur zeigen die Untersuchungen leider auch: Wirklich helfen kann das Debriefing
nicht. Es fördert die gefürchteten Spätfolgen von Katastropheneinsätzen
möglicherweise sogar. Offenbar schadet es eher, "dass man nicht nur selber das
Schlimmste erzählt, sondern dass die anderen das auch noch mal erzählen", sagt
Professor Mathias Berger, ärzlicher Direktor der Freiburger Unipsychiatrie.
Psychiater der Universitätsklinik in Oxford vermuten, dass Debriefing "die
normalen zur Erholung führenden Verarbeitungsprozesse stört".
Sie hatten versucht, Opfern von Verkehrsunfällen durch Debriefing zu helfen.
1996 veröffentlichten sie in einer Fachzeitschrift einen ersten Bericht über
ihren Misserfolg, der sich bei der vergangenes Jahr publizierten
Nachuntersuchung bestätigte: Verglichen mit Unbehandelten klagten die Debrieften
über mehr Schmerzen und andere körperliche Symptome, hatten mehr psychische
Probleme und größere Angst davor zu verreisen. Schlussfolgerung der
Oxford-Forscher: "Debriefing ist wirkungslos und hat unerwünschte
Langzeitwirkungen. Es ist keine sinnvolle Behandlung für Trauma-Opfer." In
Australien scheiterte ein Versuch, jungen Müttern nach einer schweren Geburt mit
Kaiserschnitt, Zange oder Saugglocke die Zeit danach zu erleichtern. Ein halbes
Jahr später ging es ihnen nicht besser als einer unbehandelten Vergleichsgruppe,
die Debriefing-Teilnehmerinnen litten eher etwas öfter unter Depressionen.
Beweise für den Erfolg fehlen
Niemand hat bislang wissenschaftlich einwandfrei den Nutzen von Debriefing nach
einem Katastropheneinsatz untersucht - im Tohuwabohu nach einem Desaster eine
kontrollierte Studie zu starten wäre schwierig. Die Befürworter der Methode wie
Mitchell und sein Ko-Autor George Everly berufen sich auf problematische
Untersuchungen wie die mit 30 Notfallhelfern, die bei einer Schiesserei in einer
texanischen Cafeteria eingesetzt waren. Die behandelten Helfer berichteten
später von weniger Depressionen und Ängsten. Doch die Teilnehmer hatten sich
freiwillig zur Nachbesprechung eingefunden und sind daher möglicherweise nicht
mit der ferngebliebenen Hälfte vergleichbar. Überdies wurden sie bereits einen
Monat später untersucht - da zeigen sich mögliche Spätschäden noch lange nicht.
Wenn unabhängige Wissenschaftler den Forschungsstand zusammenfassen, fällt das
Urteil regelmäßig negativ aus. "Weder unmittelbare noch kurz- oder langfristige
Wirkungen", befindet die Trauma-Forscherin Regina Steil von der Universität Jena
in einer neuen Auswertung. "Bestenfalls ineffektiv", urteilen die Psychologen
Karin Clemens und Christian Lüdtke vom deutschen Institut für
Psychotraumatologie an der Universität Köln in ihrem vor kurzem erschienenen
Artikel Debriefing - werden die Opfer geschädigt?
Trotz dieser bedenklichen Bilanz wird die Methode in zahlreichen Ländern
praktiziert. In den USA entschieden sich FBI und Airforce dafür, in Australien
die Marine, in Schweden die Polizei, in Island die Vereinigung der
Notfalldienste. In Deutschland setzt das Rote Kreuz aus Debriefing, etwa in
München, wo sich die Ausbildung der für die "Stressbearbeitung nach belastenden
Ereignissen" zuständigen Mitarbeiter "streng an den Konzepten von Everly und
Mitchell" orientiert. Auch die Malteser halten mehrere Debriefing-Teams bereit,
die im Notfall ausrücken. Die Bundeswehr reagierte mit der Methode auf "kriegs-
und einsatzeigentümliche Ereignisse, wie Tod oder Verwundung von Kameraden", so
ein Papier des Verteidigungsministeriums mit Blick auf die Einsätze im früheren
Jugoslawien.
Welche Probleme ein schnelles Debriefing hinterlässt, kann der Marburger
Psychologe Georg Pieper berichten. Er gehört zu den erfahrensten deutschen
Trauma-Experten und hat zahlreiche Opfer und ihre Hinterbliebenen in oft
jahrelangen Therapien betreut, etwa nach dem Grubenunglück von Borken, der
Flugschau-Katastrophe von Ramstein und dem Zugunglück von Eschede. Vor
anderthalb Jahren rief ihn das sächsische Kultusministerium an das Gymnasium von
Meißen, wo ein Schüler wenige Monate zuvor vor den Augen der Klasse seine
Geschichtslehrerin erstochen hatte. Ein Team der Bundeswehr kam daraufhin mit
dem Hubschrauber zum Debriefing der Tatzeugen und flog wieder ab. "Da war
therapeutisch noch viel zu tun", berichtet Pieper. Noch heute leiden Schüler und
Pädagogen unter Schuldgefühlen, der sterbenden Lehrerin nicht geholfen zu haben.
Sie erleben den Mord in Flashbacks immer wieder und werden von Panik ergriffen,
wenn sie in Filmen Gewalt sehen.
Eine Kurzbetreuung nach solchen Katastrophen vermittelt den Opfern
unterschwellig die fatale Botschaft: "So, ihr seid jetzt psychologisch
behandelt, jetzt müsst ihr aber damit zurechtkommen", kritisiert Pieper. "Ich
bin absolut gegen dieses Schnellschussverfahren." Zwar empfehlen die Debriefer
stets, bei Problemen fachliche Hilfe zu suchen. Doch davor scheuen nach Piepers
Erfahrung gerade die am ärgsten Betroffenen zurück. "Man muss denen richtig auf
die Pelle rücken", meint Pieper. Er legt beispielsweise einfach fest: "Wir
treffen uns nächste Woche." Wenn sich die Teilnehmer in Debriefing-Gruppen ihre
Erlebnisse erzählen, müssen sie sich seiner Ansicht nach später wieder mehrmals
treffen, "damit es nicht beim Austausch des Grauens bleibt".
Vorsichtige Experten verzichten inzwischen auf emotionsgeladene Aufarbeitungen
nach einem Unglück. Die Deutsche Bahn organisierte früher gelegentlich
Debriefings für ihre Mitarbeiter, etwa wenn ein Zug in eine Gruppe von
Gleisarbeitern gefahren war. Heute wird in den Nachbesprechungen das Geschehen
eher sachlich diskutiert, und Fachleute klären über die psychischen Folgen auf.
Sabin Gröben, die den Servicebereich Psychologie der Bahn leitet, sagt dazu:
"Das nimmt vielen die Angst, verrückt zu werden."
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