Zum Thema Lehrerinnen-Mord durch einen Schüler in Meißen:
Nach dem schrecklichen Verbrechen von Meißen
Psychologe Pieper: "Endlich fließen Tränen..."
Von Brigitte Riedel
MEISSEN - Auf einer Krebsstation war er für sterbende Kinder und ihre Eltern da.
Er war der Erste, der nach der Bergwerksexplosion von Borken (1988, 51 Tote)
gerufen wurde, um traumatisierte Angehörige zu betreuen. Er half nach der
Flugzeugkatastrophe von Ramstein und dem Zugunglück von Eschede. Jetzt hilft
Georg Pieper (46) in Meißen - am Gymnasium, an dem ein Schüler vor der ganzen
Klasse seine Lehrerin erstach.
Um seelisches Zerbrechen zu verhindern, beauftragte das sächsische
Kultusministerium den Diplompsychologen, die Betroffenen zu betreuen. Bis
Dezember ist der Experte aus Friebertshausen bei Marburg je zwei Tage im Monat
an der Schule.
In Meißen fand er tiefe Betroffenheit vor, gepaart mit "der Unfähigkeit, darüber
zu sprechen". "Es war wie eine Wunde, bei deren Berührung man zusammenzuckt",
schildert Pieper die ersten Begegnungen. Seine Reaktion: Er fragte Schüler,
Lehrer und Eltern: Welche Hilfe braucht Ihr, was tut Euch gut?
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Georg Pieper ist Reisender in Sachen Opferbetreuung. Als Spezialist für
posttraumatische Stressbewältigung hilft er Meißner Schülern und Lehrern, an dem
miterlebten Verbrechen nicht zu zerbrechen. Foto: MKL
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Es dauerte lange, bis es heraus war: Die Lehrer wollten über ihre Trauer und
Ängste reden, die Schüler darüber, wie sie den besonders Erschütterten unter
ihnen und der Familie des Opfers helfen können. Eltern wollten wissen, wie sie
damit umgehen sollen, dass ihre Kinder nachts Albträume haben und tags nicht
reden wollen.
"Man muss Worte finden für das, was passiert ist und quält", weiß Georg Pieper
nur zu gut. Seit zwölf Jahren hilft er Menschen, die ihr Unglück nicht
verarbeiten können. "Nur wer darüber redet, kann auch darüber hinwegkommen. "
Mit Hilfe von Fragebögen (mit gut 50 Fragen) ermittelte der Psychologe die
Schwere der seelischen Verletzung. Krasseste Symptome neben Schlaf- und
Konzentrationsstörungen, Übernervosität und Angst: Schüler wie Lehrer werden
plötzlich von Bildern der Wiedererinnerung überfallen, die sie nicht stoppen
können, quälen sich mit Schuldgefühlen und totaler Verunsicherung.
Piepers Diagnose: Ein erheblicher Teil der Betroffenen war schwer traumatisiert,
braucht gezielte Hilfestellung. "Da wächst nicht automatisch Gras drüber. Wer
sich so belastet, trägt Schaden davon, kann ernsthaft psychisch krank werden."
Mit gezielten therapeutischen Methoden will er eine Verschärfung der Probleme
verhindern. "Ich arbeite daran, dass die traumatischen Bilder verschwinden",
sagt der 46-Jährige. "Dazu muss man durch die belastenden Dinge noch mal durch,
solange, bis sie ihren absoluten Schrecken verlieren." Nach Piepers Erfahrung
auch hilfreich: ein gut funktionierendes soziales Netz, einfühlsame Eltern und
Freunde, das Aufschreiben der Gefühle als Tagebuch oder Gedicht, Sport,
Naturgenuss. "Die Erinnerung wird immer traurig bleiben, aber sie soll nicht
mehr bis an die Grenzen der Belastbarkeit erschüttern. "
Er bescheinigt sich Fähigkeit zum Mitfühlen, aber auch zum Abgrenzen. Als
Familienvater (drei Kinder) und "rheinische Frohnatur" weiß der gebürtige
Brühler das Leben zu genießen - Fußball spielen, Schwimmen, Reisen, gutes Essen.
Karneval ist für ihn Pflicht. "Da will ich nur noch lachende Leute sehen! "
Auch die Betroffenen im Franziskaneum will er darin begleiten, wieder Freude am
Leben zu finden. Georg Pieper war bisher drei Mal mit den Meißner Lehrern und
Schülern zusammen.. "Es fällt ihnen jetzt schon leichter, zu reden", verbucht er
einen ersten Erfolg. "Und endlich fließen auch Tränen. Das ist ein gutes
Zeichen."
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