Zum Thema Lehrerinnen-Mord durch einen Schüler in Meißen:
Eine Narbe wird bleiben
Das Meißner Franziskaneum ein halbes Jahr nach dem Lehrerinnen-Mord /
Schulleiter und betreuender Psychologe gaben Auskunft / Aufarbeitung wird ein
Jahr dauern
Am 9. November 1999 erstach Andreas S. am Meißner Gymnasium Franziskaneum seine
Geschichtslehrerin Sigrun Leuteritz. Gestern begann am Dresdner Landgericht der
Prozess gegen den 15-Jährigen. Was hat sich seit der Bluttat an der Schule
verändert? Wie gehen Schüler und Lehrer mit dem Erlebten um? Fragen, auf die
gestern die Schulleitung Antwort gab.
Von Jörg Mosch
"99 Prozent aller Menschen sind in so einer Situation nicht in der Lage,
einzugreifen." Das war Georg Piepers Antwort auf die Frage, warum niemand aus
der Klasse 9/1 Sigrun Leuteritz geholfen hat. Pieper gilt als einer der größten
Experten für Stressbewältigung in Deutschland. Seit Jahresbeginn betreut er die
Schüler und Lehrer des Meißner Franziskaneums dabei, die seelischen Folgen zu
überwinden, die der Mord an der Lehrerin hinterlassen hat. Ein Drittel der
Mädchen und Jungen aus der 9/1 seien schwer traumatisiert. Sie brauchen
dringende Behandlung. Bis zum Jahresende werde das noch nötig sein.
Auch Schulleiter Dietmar Liesch hat psychologische Hilfe in Anspruch nehmen
müssen. Vergessen wird er diesen 9. November 1999 niemals. "Das ist eine
bleibende Verletzung", sagte er gestern beim Pressetermin am Eingang des
Gymnasiums. Bis heute fehlen ihm die Worte, wenn er die Situation in jenen Tagen
beschreiben soll. "Ich hatte Tränen in den Augen", sagte er. "Auch vor unseren
Schülern. Und ich hab' mich nicht dafür geschämt."
Das Zimmer, in dem der Mord geschah, ist vorgerichtet worden und wird wieder
benutzt. Über den Gang, auf dem Sigrun Leuteritz zusammenbrach, gehen tagtäglich
Lehrer und Schüler. "Irgendwie geht das", sagte Dietmar Liesch. "Der Alltag an
so einer großen Schule ist hart genug."
Die schwerste Last hat zweifellos die 9/1 zu tragen. Von einem Schüler war zu
erfahren dass eine Lehrerin über Wochen nur Folien abschreiben ließ, weil sie
einfach nicht mit der Klasse sprechen konnte. Kurz vor Ostern ergriffen die
Mädchen und Jungen die Initiative. Sie backten Kuchen, kochten Kaffee und luden
ihre Fachlehrer zum Gespräch ein. Das dauerte ganze drei Stunden. Ein paar der
Barrieren sollen dabei gefallen sein.
Auch um die Eltern von Sigrun Leuteritz kümmern sich die Gymnasiasten. Sie
helfen den alten Leuten im Haushalt oder kommen einfach nur zum Reden. Erstaunte
Feststellung der Jungen und Mädchen: "Die beiden haben sich noch richtig lieb!"
Und das Klima generell an der Schule? Mit überdurchschnittlichem Gewaltpotenzial
kann das Franziskaneum nicht aufwarten. Natürlich gibt es die üblichen
Rangeleien. Und der Leistungsdruck ist hoch. Da wünscht mancher seinem "Pauker"
zumindest die Grippe an den Hals, damit die nächste Klausur ausfällt. Wohl
normale Schülerfantasien. "Ein Drittel weniger Leistung und dafür mehr Eingehen
auf emotionale Dinge", wünschte sich gestern Georg Pieper. - Die
Pressesprecherin vom Regionalschulamt, die gestern stumm dabei stand, hat's
hoffentlich gehört.
MORD AM MEISSNER FRANZISKANEUM
- 9. November 1999 Am Gymnasium Franziskaneum ersticht der Schüler Andreas S.
(15) seine Lehrerin Sigrun Leuteritz (44). Die Klasse 911 ist Augenzeuge der
Tat. Die Schule wird geschlossen. Viele Schüler und Lehrer mÜssen psychologisch
betreut werden.
- 10. November 1999 Das Gymnasium wird von Fernsehteams und Journalisten
belagert. Das bundesweite Medieninteresse kompliziert die Lage an der Schule
zusätzlich. Es findet kaum Unterricht statt, dafür erste Versuche, über das
Verbrechen zu reden. Andreas 5. ist in Polizeigewahrsam. Der Prozessbeginn wird
frühestens in vier Monaten erwartet.
- 22. November 1999 In der Meißner Johanneskirche nehmen Angehörige,
Lehrerkollegen und Schüler Abschied von Sigrun Leuteritz.
- Anfang 2000 Georg Pieper, Experte für posttraumatische Stressbewältigung,
kommt zwei Tage im Monat ans Franziskaneum, um mit Schülern und Lehrern das
Erlebte aufzuarbeiten.
- 9. Mai 2000 Am Landgericht Dresden beginnt der Prozess gegen Andreas S. Da für
ihn Jugendstrafrecht gilt liegt die Höchststrafe bei zehn Jahren.
[ zum Seitenanfang ]
|